Mexikanische Lebensphilosophie

3 Jul

Wenn man mexikanische Bekannte trifft, fragt man nach der Begrüssung immer „como estás“ – wie geht es Dir – , die Standardantwort ist in 98 Prozent der Fälle „bien“ oder gar „muy bien“ – gut bzw. sehr gut. Manchmal wundert man sich darüber, weil man weiss, dass es dem Bekannten momentan so gut gar nicht geht – er hat eine Grippe oder Probleme in der Familie oder mit der Arbeit oder mit dem Geld oder was auch immer. Aber es ist ja alles relativ – trotz der Probleme geht es ihm gut, denn die könnten ja noch grösser oder zahlreicher sein und andere Leute sind möglicherweise noch schlechter dran. Man versucht aber trotz aller Probleme und Belastungen guter Dinge zu sein und vor allem sehr freundlich und seine Mitmenschen anzulächeln – schliesslich ändert es ja nichts, wenn man mürrisch ist und damit sich selbst und anderen das Leben vermiest…weiterlesen

Beim Abschied heisst es dann oft „nos vemos mañana –  si dios quiere“ – wir sehen uns morgen, wenn Gott es so will.

In diesen Floskeln drückt sich deutlich ein Teil der Lebensphilosophie aus – nichts ist wirklich planbar, und alles könnte schlimmer sein und ganz abgesehen davon hatte man ja schon viele positive Tage und Phasen, also darf man sich nicht beklagen, wenn es mal nicht ganz so gut geht.

Wir sind von der Weltanschauung geprägt, dass man zum Glücklichsein eine ganze Menge von Dingen braucht: Eine grosse schicke Wohnung oder ein möglichst luxuriöses Haus, dazu die entsprechenden Autos usw. Viele Mexikaner verstehen nicht, wozu das gut sein soll, sie leben in relativ kleinen Häusern oder auch nur Hütten mit einer relativ grossen Familie, haben einen für unsere Begriffe relativ bescheidenen Lebensstandard und stil – und sind damit zufrieden und dabei meist  guter Dinge.

Das hat seine Wurzeln wohl in dem Denken der alten und gegenwärtigen indianischen Völker, für die alles, was die Natur hervorbrachte, ein Geschenk der Götter war, an dem man sich erfreuen, mit dem man aber auch sorgsam und sparsam umgehen sollte; man darf von Mutter Natur nur das nehmen, was man unbedingt braucht, um zu überleben, und man muss dafür auch Dankbarkeit zeigen, indem man sie respektiert und hegt und pflegt.

Man macht sich wenig Sorgen um die Zukunft, da man ja nie genau weiss, was die an guten und weniger guten (z.B. Erdbeben, Hurrikans, Wassermangel, aber auch Arbeitslosigkeit wie z.Z., Teuerungen usw. ) Überraschungen bereit hält, man geht nicht davon aus, dass man sich vor allen Eventualitäten schützen und absichern kann – was kommt, das kommt und dann muss man halt sehen, wie man alleine oder mit Hilfe anderer damit klarkommt.

Wir dagegen neigen dazu, alles zu planen und uns abzusichern und vorzusorgen – das Ergebnis der Lebenserfahrung unserer Vorfahren, die – wollten sie den Winter überleben – Vorräte anlegen mussten: haltbare Lebensmittel, Brennmaterial, adäquate Kleidung, für eine wetterfeste Behausung sorgen mussten usw. Das ist uns in Fleisch und Blut übergegangen.

Was für die Breiten von Deutschland lebensnotwendig und von daher sehr sinnvoll war, das wäre hier weitgehend absurd: Lebensmittel verrotten sehr schnell in diesem Klima, Brennmaterial braucht man nur zum Kochen, Winterkleidung gibt es gar nicht, und es reicht, wenn man gut vor der Sonne und halbwegs vor dem Regen geschützt ist, wobei das Leben sich ja zum grossen Teil auch ausserhalb des Hauses abspielen kann. Anders als im Norden wachsen die meisten Früchte  zu allen Jahreszeiten, man findet also jederzeit etwas zum Essen –  die Kokospalme hat das ganze Jahr über gleichzeitig Blüten, ungereifte, halbgereifte und ausgereifte Früchte.

Solche Bedingungen wirken sich natürlich auch auf die Mentalität der Menschen aus – hier der Zwang vorzu s o r g e n  und zu planen, dort die relative Sorglosigkeit, was das Überleben betrifft, die Bereitschaft, das, was man momentan hat, mit anderen zu teilen (vor allem mit der Familie im weiteren Sinne), hier die Notwendigkeit, den Besitz zu bewahren oder  – noch besser – zu vermehren und möglichst nicht zu teilen, dort die Gewohnheit, dass man an dem teilhaben kann, was der andere momentan im Überfluss hat, allein schon deshalb, weil es sonst eh verderben würde… 

Die vielen Angler, die hier am Strand von Los Muertos besonders jetzt in der Krise versuchen, den Speiseplan der Familie mit Fischen zu ergänzen, geben, wenn sie mehr Fische fangen als sie brauchen, das an andere ab, was die Familie nicht verzehren kann, ohne jede Gegenleistung. Aber vielleicht hat der andere Angler morgen grösseres Glück und man selbst weniger… Und die Reiher, die sich öfters ganz in der Nähe der Angler aufhalten, bedienen sich schon mal aus dem Eimer, wo kleine Fische (die vorher mit dem Netz gefangen wurden) aufbewahrt werden. Davon werden auch schon mal die Fregatt-Vögel gefüttert, die dann scharenweise kommen. Und auch die Pelikane sind alles andere als scheu, weil auch sie ihren Teil abbekommen.

Wir haben in fast drei Jahrzehnten in Mexiko immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die meisten Mexikaner handwerklich äusserst geschickt und erfindungsreich sind und sehr gut im Improvisieren – sie staunen dagegen über unsere Pünktlichkeit und unser Organisationstalent und die Fähigkeit, etwas systematisch zu planen und durchzuführen.

Wenn Mexikaner zum ersten Mal in Deutschland sind, dann sind sie sehr amüsiert über die minutengenauen Fahrpläne – 8.11 Uhr, 17.04 Uhr usw. – und höchst erstaunt, dass nicht nur Züge sondern auch Stadtbusse tatsächlich zur angegebenen Uhrzeit abfahren. Hier in Puerto Vallarta gibt es genau wie in der 20 Millionen-Metroploe Mexiko-Stadt schlicht und einfach überhaupt keine Fahrpläne, manche Bushaltestellen sind noch nicht mal als solche gekennzeichnet. Man wartet eben, bis ein Bus kommt und reiht sich bei starkem Andrang in die Schlange ein. Es kann gut sein, dass dann gleich drei Busse auf einmal kommen. Und mancher Busfahrer liest auch seine Kunden einfach von jeder x-beliebigen Stelle auf, wenn man ihm signalisiert, dass man mitgenommen werden möchte. Eigentlich muss man vorne einsteigen, weil man ja dort bezahlen muss (Tages-, Wochen- oder gar Monatskarten kennt man hier nicht), diejenigen, die das nicht tun, geben dann ihre Münzen einfach durch den Bus durch – oft stehen die Fahrgäste dichtgedrängt, weil kein Sitzplatz mehr frei ist – , irgendwann kommen sie bei dem Fahrer an. Einen Beleg gibt es eh nicht.

Mexikaner verstehen oft nicht, warum alles so total perfekt und abgesichert sein muss, so wie wir nicht verstehen, dass man es mit Terminen und Verabredungen nicht so genau nimmt und unendlich viel Zeit mit Warten und unötigen Fahrten verloren geht.

Hier lebt man sehr das Hier und Jetzt, in Deutschland lebt man weitgehend auf etwas Zukünftiges, Besseres hin, das man für planbar hält – es aber letztlich doch nicht ist, jedenfalls nicht immer, das wird ja nun mal wieder in der Krise deutlich. Und das setzt uns zu, macht uns Sorgen und beunruhigt uns. Fragt man Mexikaner, wie sie die Krise empfinden (und auch hier bekommen sehr viele Menschen die Auswirkungen der Krise ziemlich deutlich und z.T. sehr empfindlich zu spüren), dann zucken viele nur mit den Schultern: „Wir haben hier schon so viele Krisen überlebt, dann werden wir auch diese überleben….“

Als im Hinblick auf die Schweinegrippe empfohlen wurde, die hier üblichen Umarmungen und Wangenküsse zu unterlassen, trafen wir eine ehemalige Nachbarin, ihres Zeichens Krankenschwester, die uns – wie könnte es anders sein – liebevoll umarmte und meinte, wer die Grippe bekommen solle, der bekomme sie so oder so. Ganz ähnlich ging es uns mit Besuchern aus Mexiko-Stadt, wo es ja – im Gegensatz zu Puerto Vallarta – einige Grippefälle gegeben hatte.

Nun ist es natürlich nicht so, dass hier alle sorglos darauf losleben und keinen Wert auf bessere Lebensbedingnungen legen, so wie ja auch wir Deutschen bei Festen unsere Sorgen vergessen und sehr guter Dinge sein können. Natürlich legen auch hier etliche Wert auf ein grosses Haus und ein grosses Auto und die neuste Mode (vor allem, wenn sie von Europa und /oder den USA und Kanada beeinflusst sind) – so wie andererseits in Deutschland etliche nicht oder nur kaum an derlei Dingen interessiert sind. Aber es gibt grosse Unterschiede in der Gewichtung. Und hier in Mexiko ist man eher mit einem relativ einfachen Leben zufrieden als in Deutschland, und in Deutschland neigt man deutlich mehr dazu, das Leben systematisch zu planen, um alles möglichts perfekt zu machen und zu haben.

Erich Fromm (Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe), der emigrieren musste aus Deutschland, hat hier in Mexiko gelebt und gelehrt und u.a. ein Werk mit dem Titel „Haben oder Sein“ verfasst, in dem er sich sehr kritisch mit dem Immer-mehr-haben-wollen auseindersetzt und diesem Bestreben das sich Bescheiden mit einfachen Lebensformen entgegensetzt und dem Besinnen auf ideelle Werte, die einem nicht zum Sklaven von materiellen Gütern machten.

Vielleicht sollten wir alle – Europäer wie Mexikaner – im Zeitalter der Globalisierung lernen, uns ein Scheibchen von dem abzuschneiden, was der Andere offensichtlich besser kann – auch im Hinblick auf die Fähigkeit, das Leben zu geniessen – froh zu sein bedarf es wenig, doch wer froh ist, ist ein König.

Vielleicht haben ja auch Sie diesen kleinen Kanon mal in der Grundschule gelernt!

2 thoughts on “Mexikanische Lebensphilosophie

    • Vielen Dank für Ihren Kommentar,
      worüber möchten Sie denn gerne weiter Informationen ?
      Gruss

Comments are closed.